Offene Grenzen, Globalisierungsbewegungen in Gesellschaft und Wirtschaft, grenzübergreifende Kooperations- und Forschungsprojekte – die Internationalisierung des Service ist in vielen Bereichen zu spüren. Unternehmen können sich nicht nur auf einen regionalen oder nationalen Markt konzentrieren, sondern müssen sich weltweit öffnen.
Doch wie geht man als Service-Manager hier am geschicktesten vor? Und wie arbeitet man mit den sich abzeichnenden Veränderungen, die sich gerade international durch die Digitalisierung ergeben? Im Interview spricht Markus Fournell, Vice President Service Products & Digitalization bei ABP Induction über weltweit vernetzte Lern- und Supportwelten im Service und die Lehren, die er aus der Corona-Pandemie gezogen hat.
ABP Induction ist in der metallverarbeitenden Industrie seit Jahren ein Begriff. Jetzt fällt der Name des Unternehmens auch immer häufiger in einem Atemzug mit Schlagwörtern wie Digitalisierung, Industrie 4.0 und Nachhaltigkeit. Können Sie die Entwicklung erklären?
Markus Fournell: Gegenfrage: „Geht heute Nachhaltigkeit überhaupt noch ohne Digitalisierung?“ Nachhaltigkeit in ihren zwei Dimensionen – ökologisch und ökonomisch – steht bei immer mehr Unternehmen auf der Agenda. Mit Blick auf eine bessere Umweltbilanz, einen effizienteren Betrieb und einen sicheren wie attraktiven Arbeitsplatz rücken digitale Services in den Fokus. Absatzmärkte verändern sich weltweit durch Energiepreise, Elektromobilität und globale Konkurrenz, die Preisdruck erzeugt. Wenn man Wettbewerbsfähigkeit erhalten möchte, muss dafür das Geschäftsmodell überdacht werden. Dazu gehört auch, dass unsere Produkte so ausgereift sind, dass wir kaum noch Leistungssteigerungen erzeugen können. Unsere Antwort ist hier: Digitalisierung bzw. digitale Geschäftsmodelle.
ABP ist ja global aufgestellt, was die Produktion und den Vertrieb von Maschinen und Anlagen angeht. Gilt das auch für den Service – wie sind Sie da international organisiert?
Markus Fournell: ABP Induction hat neben dem Anlagenbau früh auf den Service gesetzt. Service ist ein wichtiger Geschäftsbereich bei uns: Der Anteil liegt bei fast 50 Prozent und damit weit über den üblichen 20 Prozent, wie man es aus dem Maschinenbau kennt. ABP hat dazu ein umfangreiches digitales Portfolio entwickelt, mit dem sich Unternehmen im Sinne der vierten industrielle Revolution neu aufstellen können. Wir sind fest davon überzeugt, digitale Services sind nur dann für Anwender auf der ganzen Welt sinnvoll, wenn sie offen sind, der Anwender die Datenhoheit hat und sein Nutzen deutlich erkennbar ist – und das weltweit. Dazu kommt, dass bei uns das digitale Geschäftsmodell als eigenständig angesehen wird: Unser Verständnis ist, dass digitale Transformation nicht dazu dient, das bestehende Geschäftsmodell abzusichern, sondern es bedeutet, ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln, das auf den Stärken von ABP aufbaut. Das Servicegeschäft wird dementsprechend auf drei Ebenen digitalisiert. Es geht um digitale Serviceprodukte, Partnermanagement und digitale Marketingkanäle.
Wie sieht Ihre internationale Digitalisierungsstrategie im Service konkret aus?
Markus Fournell: Der Nutzen ist der Erfolgsfaktor, den man im Blick haben muss. Die Steigerung der Anlagenverfügbarkeit und der Produktivität sowie der Qualität bei gleichzeitiger Reduzierung der Umweltbelastung und der Produktionskosten sind die Herausforderungen, mit denen Unternehmen weltweit alltäglich konfrontiert sind. Viele Unternehmen haben sich in den letzten Jahren dieser Aufgabe gestellt und passende Konzepte zum sparsamen und zeiteffizienten Einsatz der Produktionsfaktoren: Betriebsmittel, Personal, Werkstoffe, Planung und Organisation entwickelt.
ABP Induction begleitet diese Prozesse ganzheitlich bei der Fortführung der zukunftsorientierten Strategien: Durch die digitalen Lösungen rückt ABP Induction näher an den Anwender heran und unterstützt diese beim täglichen Betrieb, der Wartung und der Weiterbildung des Personals. In den Fokus rückt bei uns dabei das Kundenportal myABP. Anwender im produzierenden Bereich weltweit profitieren von weniger ungeplanten und geplanten Downtimes, zudem sind alle wichtigen Informationen wie Anlagendaten, Wartungsplanung und Know-how-Datenbank auf dem Portal verfügbar, und durch bessere Trainings werden Reparaturdauer und Energieverbrauch reduziert. Diese Trainings können in virtueller Umgebung stattfinden und so weltweit gleichzeitig durchgeführt und abgerufen werden.
Was konkret lässt sich damit weltweit nutzen?
Markus Fournell: Um ein möglichst schnellen ROI für uns und unsere Kunden zu realisieren, haben wir uns auf digitale Servicelösungen konzentriert. Es ist eine Kombination aus Wartungsplanungshilfen, Ticketing, Knowledge Management System, Virtual Trainings, Augmented Reality-Unterstützung, Anlagenübersicht und zuverlässigem Service. So lassen sich Predictive und Preventive Services weltweit anbieten.
Wir haben erkannt: Die digitale Transformation muss ganzheitlich gedacht werden. Insofern hat ABP ein lückenloses Digitalportfolio entwickelt, das auf der schon erwähnten Plattform myABP aufbaut, aus drei Säulen besteht und unter dem Label ENTERABP zusammengefasst wird. Dazu gehört die ABP Virtual Academy, die aus den Bausteinen ABP Virtual Classroom und Virtual Training besteht. Außerdem wurde der Augmented Reality (AR)-Service „digital Expert on Demand“ (dEoD) eingeführt, mit dem remote Serviceleistungen erbracht werden können, sowie das Thema M2M Kommunikation und künstliche Intelligenz (KI) in den ersten Optimierungsapplikationen realisiert. Gebündelt werden diese digitalen Services eben in der Plattform myABP, über die Kunden ihre Trainingsaktivitäten, aber auch ihre gesamte Anlagenverwaltung planen können. Komplettiert wird die Toolsammlung durch einen Online-Shop für Ersatzteile.
Was leistet die Virtual Academy im Detail?
Markus Fournell: In der ABP Virtual Academy werden Trainings- und Weiterbildungsangebote hinterlegt - in unserem Fall aktuell vor allem für alle technischen Bereiche der Gießerei- und Schmiedeunternehmen. Alle Lösungsbausteine gibt es aber auch als White Label, also für alle denkbaren weiteren Branchen. Das Angebot ist online verfügbar, und zwar weltweit. Zusammengefasst werden hier einerseits virtuelle Sessions und zum anderen Trainingsmaßnahmen und Expertenvorträge, wie wir es ja auch schon einmal mit der KVD Service goes live praktiziert haben. Mit der ‚ABP Virtual Academy‘ tragen wir dem hochsensiblen Arbeitsbereich Rechnung: Regelmäßige Trainings und Schulungen der Mitarbeiter sind elementar, gerade im Umfeld einer Anlage.
Im ‚ABP Classroom‘ lassen sich individuelle und aktuelle Themen besprechen und erlernen. Internationale ABP-Experten bieten hier Vorträge zu Produkten und Lösungen an, zeigen neue Entwicklungen und Best Practices auf und laden Anwender ein, ebenfalls ihr Wissen zu teilen. Die Sessions finden in einer virtuellen Umgebung statt, die Teilnehmer und Experten treten in dem Classroom als Avatare auf. Das System ist spannend, wenn Anwender ihr Wissen zu einer vorhandenen ABP-Anlage auffrischen wollen oder ein Onboarding neuer Mitarbeiter ansteht. Enorm hilfreich ist so eine digitale Session als Kick-off, wenn Anwender planen, ihre Anlage zu modernisieren, zu erweitern oder ganz neu aufzubauen.
Das Spannende daran ist, dass Service-Experten aus der ganzen Welt hier ihr Wissen zusammenbringen und in den Austausch gehen. Es gab schon internationale Sessions, bei denen Teilnehmer aus Nordamerika, Europa und Asien zusammengekommen sind, um an gemeinsamen Themen zu arbeiten oder sich gegenseitig zu supporten. Diese Experten in der Realität zusammenzubringen, wäre ein ungleich schwierigeres Unterfangen. Mal ganz abgesehen von den aktuellen Reisebeschränkungen, denken Sie auch einmal an den organisatorischen Aufwand: Die Service-Experten würden mit Reise und Präsenzzeit tagelang aus dem regulären Arbeitsbetrieb herausfallen. Das sind Personal- und Reisekosten, bei denen man sich als Unternehmen schon zwei Mal überlegt, ob man diese investieren möchte – wenn es doch digitale Lösungen gibt, die deutlich kostengünstiger daherkommen und ein annähernd gleiches Lern- und Arbeitserlebnis ermöglichen.
Wie genau kann man sich so ein New Learning- oder New Work-Setting vorstellen?
Markus Fournell: Kunden können ihre Mitarbeiter in virtuelle Trainingssessions schicken, sozusagen der „Flightsimulator für die Gießerei“. Die Trainings finden im virtuellen Raum über eine Virtual Reality-Umgebung samt Brille statt. In der virtuellen Umgebung können Arbeitsabläufe und Notfallmaßnahmen trainiert werden, die am realen Produkt im Live-Betrieb so nicht möglich sind. Damit kann jeder Mitarbeiter auf Wunsch im virtuellen Raum an einem digitalen Zwilling trainieren.
So lassen sich auch wichtige Handgriffe, Arbeitsschritte und Notfallmaßnahmen planen, die am tatsächlichen Objekt aus Sicherheitsgründen gar nicht möglich wären. Die virtuellen Trainings sind aber auch ein Angebot zum Anlernen neuer Mitarbeiter. Diese virtuellen Trainings können ganz einfach als Desktop-Anwendung wie ein Computer-Spiel oder mit speziellem Equipment interaktiv im Raum absolviert werden. Gamification lautet hier das Stichwort.
Wie entstehen diese Trainings – entwickeln Sie diese selber?
Markus Fournell: Ja sicher, einmal auf Grundlage unserer Erfahrungen, dann aber auch aufgrund von Rückmeldungen unserer Kunden. So können wir auch spezielle Trainings für unregelmäßig anfallende Wartungen und seltene Störungen entwickeln. Auch individuelle Szenarien nur für ganz spezielle Produktionsumgebung en entwickeln wir, einfach weil die Vorteile des virtuellen Trainings so vielseitig sind. Durch die Abstraktion besteht nie eine Gefahr für Mensch und Maschine, und das bei gleichzeitig realitätsnahen Handgriffen durch die Interaktion. Zum anderen sind die virtuellen Trainings besonders effizient. Der Produktionsbetrieb wird nicht eingeschränkt, ein kostenintensives Schmelzen entfällt, und durch die beschleunigte Simulation kann Zeit eingespart werden.
Haben Sie ein Beispiel, wie so ein Training aussieht?
Markus Fournell: Ein sehr plakatives Beispiel ist das Training zur Verhinderung einer Brückenbildung im Induktionsofen unserer Gießereikunden. Beim Schmelzen im Induktionsofen kann das Chargiergut oberhalb der Aktivspule eine feste Decke bilden, da das elektromagnetische Feld dort nicht mehr ankoppelt. Das kann den eigentliche Schmelzprozess behindern, indem sich dieser Teil aufhängt und ein Nachrutschen des Schrottes in den Aktivteil der Spule verhindert. Die mögliche Folge: Es kommt zu einem starken Überhitzen der Schmelze im unteren Tiegelbereich, die den Kontakt zum darüber festhängenden Schrott verliert. Diese Überhitzung kann das Ofenfutter angreifen und beschädigen. Wird das nicht rechtzeitig erkannt, kann es zum Ofendurchbruch oder zu einer Explosion durch Überhitzung kommen. Insgesamt ein Vorgang, der die Sicherheit und den Betrieb massiv beeinflussen kann und zwingend zu vermeiden ist. Speziell für dieses Phänomen haben wir ein virtuelles Trainingsmodul entwickelt.
Mit ihm lässt sich das beschriebene Szenario simulieren und in der Folge trainieren – am digitalen Zwilling der Anlage und damit nicht in direkter Produktionsumgebung, aber dafür praxisnah und unter Beachtung aller sicherheitsrelevanten Aspekte.
Der Mitarbeiter trainiert alle Arbeitsschritte virtuell und kann in diesem speziellen Training auch Gefahrensituationen erleben, die im realen Umfeld nicht zu trainieren sind – und im besten Fall auch gar nicht auftreten sollen.
Das ist also im Prinzip der Lern- und Trainingsbereich – Sie setzen aber auch Szenarien für virtuelles Zusammenarbeiten auf?
Markus Fournell: Ganz richtig, Anwender sollen im Portal myABP nicht nur einen Überblick über die installierte Basis erhalten, sondern auch die Option haben, direkt zu sehen, welche Ersatzteile sie im Bedarfsfall benötigen. Dazu kommt der Service ‚ABP digital Expert on Demand‘ - mit ihm sind Servicetechniker immer zur Stelle, wenn Support benötigt wird, um die maximale Verfügbarkeit einer Anlage zu gewährleisten. Es erlaubt unserem Supportteam, die Anlage mit Augmented Reality durch die Augen des Kunden zu sehen. Das heißt, dass der Techniker vor Ort Smart Glasses trägt oder ein Smartphone nutzt und einerseits optisch eingespielt bekommt, was er zu tun hat, und andererseits über die Kamerafunktion die Anlage und seine Arbeit daran zeigen kann. Der Experte sitzt zentral im ABP Office und kann entsprechend Anweisungen geben. Oder er sitzt in den USA, oder in China: Dank unserer globalen Präsenz geht in der ABP-Welt die Sonne nie unter - und so steht immer ein Mitarbeiter für die Anwender digital zur Verfügung und kann helfen - über ale Zeitzonen hinweg. Das ist eine ganz neue Form des Zusammenarbeitens.
Sie haben bei der Präsentation Ihrer Digitalisierungsstrategie auf dem KVD Service Congress 2020 von nicht weniger als einer Revolution gesprochen. Warum sehen Sie das so?
Markus Fournell: Es ist die starke Veränderung einer bislang komplett analogen, auf die Produktion fokussierten Branche hin zu digitalisierten Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen zusammenführen und Lösungen entwickeln, die einen Mehrwert für alle bieten. Unsere Vision für die Zukunft der metallverarbeitenden Industrie ist der Aufbau einer einzigen Plattform, auf der alle Lieferanten und Kunden zusammenarbeiten, Informationen austauschen und Werte schaffen können.
Ich meine: Eine Revolution ist keine Aufgabe für nur eine Person oder eine Firma. Wir setzen deshalb auf ein partnerschaftliches Netzwerk – mit Kunden, Lieferanten und anderen Maschinen- und Anlagenbauern, auf Partnerschaften mit anderen Unternehmen und Universitäten, um die Plattform stetig weiterzuentwickeln. Durch dieses effektive Partnermanagement verstehen wir myABP als offenes Konzept. Alle digitalen Lösungen können wie schon erwähnt als White Label von anderen Unternehmen genutzt werden – übrigens auch abseits der metallverarbeitenden Industrie. Denn auch dort ist die digitale Transformation ein Prozess, dem sich alle stellen müssen.
Das Potenzial von White Label führt dazu, dass wir selbst Branchen ansprechen können, in denen ABP bislang gar nicht vertreten ist. Von der Gießerei strahlt das Thema aus auf Glas, Pharma, Baustoffe, Nahrungsmittel und viele andere Bereiche; so meistern wir die Kür der Diversifikation durch digitale Transformation. Dies ist nicht weniger als ein Kulturwandel, der sowohl von den Betreibern als auch den Maschinenherstellern gemeinsam bewältigt werden muss – und deswegen sprechen wir zurecht von einer Revolution.
Unsere Industrie 4.0-Servicelösungen schlagen die Brücke von herkömmlichen Servicedienstleistungen zu einer neuen Stufe der Verbindung zwischen Anlagenbauer und Betreiber. Die hybride Idee hinter diesen Servicewerkzeugen besteht darin, Menschen, Maschinen und Prozesse über Herstellergrenzen hinweg zu verbinden und durch immer neue Angebote durch diese digitale Revolution zu führen. Oder – unserem Slogan „People.Technology.Success.“ entsprechend – die Digitalisierung befähigt Menschen dazu, mit neuen Technologien Erfolg zu haben, auf allen Ebenen.
Wir bedanken uns bei Markus Fournell and Michael Braun