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Guss und Stahl – Die Zukunft ist digital

Wer die Zukunft erleben möchte, muss nicht immer gleich ins Silicon Valley pilgern. Das sehen auf ihre Art auch immer mehr Startups so. Das Technologiemessen-Quartett GIFA, METEC, THERMPROCESS und NEWCAST greift die neuen Themen auf - „The Bright World of Metals” widmet 2019 Digitalisierung und Industrie 4.0 einen Schwerpunkt.

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Digitale Transformation und Industrie 4.0 zählen zu den großen Zukunftsthemen auch in den Metallurgiebranchen. Immer ausgeklügeltere Sensortechnik liefert in Gießereien und Stahlwerken immer mehr Daten aus dem Produktionsprozess. Jede gegossene Bramme, jedes gewalzte Stahlband erfordert tausende Daten. Selbst ein vergleichsweise eher kleineres Hüttenwerk wie das der Saarstahl am Standort Völklingen produziert mit rund zweieinhalb Millionen Tonnen Stahlprodukten im Jahr auch mehr als 100 Terabyte Prozessdaten – eine Datenmenge entsprechend dem Inhalt von rund 30 Millionen Telefonbüchern. 

Nicht mehr allein die Genauigkeit der Daten ist Grundlage für Information, sondern die schiere Masse. Diese auszuwerten, Muster zu erkennen und daraus Information zu gewinnen, ist mit den klassischen IT-Methoden nicht mehr zu schaffen. Big-Data-Analyse, Künstliche Intelligenz und vernetzte Cloud-Systeme treten an die Stelle der Rechenzentren und relationalen Datenbanken der Vergangenheit. Die digitale Überwachung von Maschinen und Anlagen reduziert Instandhaltungskosten, steigert die Effizienz und hat das Potenzial, Produkte zu optimieren. Cloud-Technologien mit ihrem kaum begrenzten Speichervolumen können als Enabler dienen, um aus operativen Produkt- und Maschinendaten mit neuen Dienstleistungen mehr Umsatz zu generieren.

Metallurgische Anlagenbauer wie die SMS group erhoffen sich von digitalen Dienstleistungen eine Kompensation ihres aufgrund weltweiter Überkapazitäten beim Stahl schwächelnden Stammgeschäfts. Stahlhersteller und Gießereien vernetzen mit einem hardwarebasierten IT-Einsatz von Industrie 4.0 kostensparend Einkauf, Verkauf, Produktion und Logistik. Der Aufbau digitaler Kanäle rückt den Kunden in das Zentrum des Geschäfts. 

Für den Essener Stahl- und Industriekonzern ThyssenKrupp ist die vernetzte Stahlfabrik mit einem digitalen Kanal zum Kunden bereits Stand der Technik. Das Industrie 4.0-Warmwalzwerk Hoesch Hohenlimburg in Hagen ist mit dem Vormateriallieferanten Hüttenwerke Krupp Mannesmann (HKM) in Duisburg vernetzt. In Duisburg werden die Stahlbrammen vergossen, anschließend in Hagen zu Mittelband gewalzt und das wiederum von Blechverabeitern überwiegend zu Komponenten für die Autoindustrie verarbeitetet. Noch während des Prozesses kann der Kunde am PC, Smartphone oder Tablet-PC festlegen, wann sein Bandstahl in Produktion geht und kurzfristig Änderungen bei Materialeigenschaften wie Blechstärke und -breite vornehmen. 

Gießer im Datenstrom
Aus Daten mit Unterstützung von Big Data Prozesswissen zu generieren und in Industrie 4.0 Lösungen umzusetzen, steht auch bei Aluminium- und Eisengießern auf der Agenda. Gefragt sind etwa Lösungen wie eine Prozessoptimierung durch Kopplung der Gießprozess-Simulation mit datengetriebenen Prozessmodellen – ein Forschungsansatz, den die auf Simulationssoftware spezialisierte Magma aus Aachen im Forschungsprojekt IProguss verfolgt. Immer ein Thema, gerade für ein prozessbedingt energieintensives Unternehmen wie eine Eisengießerei, ist intelligente Energie- und Ressourceneffizienz. Unter Leitung von Professor Dierk Hartmann arbeitet die Hochschule Kempten an einer optimierten Lösung für die Eisengießerei Adam Hönig. Die Gießerei setzt Barcodes ein, die von Mitarbeitern mit dem Smartphone eingescannt und an eine Datenbank übermittelt werden. So können neue Prozessparameter in den Fertigungsbereichen aufgenommen, und der Produktionsablauf kann nachverfolgt werden. Ziel ist es zum Beispiel, durch Reduzierung der Überproduktion an flüssigem Metall die Energie- und Ressourceneffizienz zu verbessern.

„Gießereien sind geübt im Umgang mit datengetriebenen Geschäftsmodellen“, weiß Heinz Nelissen, Präsident GIFA 2019 und NEWCAST und Geschäftsführer Vesuvius GmbH, Foseco Foundry Division in Borken. Ansätze rund um Maschine-zu-Maschine-Kommunikation, Automatisierung und Robotereinsatz, computergestützte Technologien, Produkt- und Prozessentwicklung bilden folglich auch einen Schwerpunkt auf der GIFA 2019. 

Wie Industrie 4.0 in der Praxis aussehen kann, lässt sich bei Karl Casper Guss in Pforzheim verfolgen. Die Gießerei fertigt ein breites Spektrum handgeformter Teile mit Stückgewichten von 100 kg bis zu 9,5 t. Um auf sich ändernde Kundenanforderungen schnell reagieren zu können und gleichzeitig eine hohe Produktionssicherheit und Qualität zu gewährleisten, setzt Casper Guss auf eine durchgängige Industrie 4.0-Lösung mit drei Säulen: 

1. Eine Vernetzung aller betrieblichen Einrichtungen

2. Eine Planung- und Steuerung der Prozesse mit hundertprozentiger Rückverfolgbarkeit über das ERP-System 

3. Ein Webportal als Interface zum Extranet, über das die Kunden Zugang zu den Fertigungsinformationen erhalten. 

Die durchgängige Vernetzung aller Systeme ermögliche es, Einzelaufträge direkt zu verplanen, wie Geschäftsführer Felix Casper beschreibt. Das ERP-System prüft automatisch die Machbarkeit bei Auftragseingang, wodurch eine hohe Termintreue gewährleistet wird. Die Rückmeldung aller Produktionsschritte verbessert den Durchlauf und steigert die Qualität. Über das Webportal können Kunden aus dem Extranet Fertigungsinformationen zu ihrer Bestellung abrufen und Ergänzungen sowie Termin- oder Stückänderungen direkt einpflegen. „Die Vernetzung der Kundensysteme mit den eigenen Systemen führt zu einer schnelleren und sichereren Abwicklung der Aufträge“, kann Casper resümieren.

FeroLabs: Industrie 4.0 für die Stahlproduktion
Neue Geschäftsfelder mit Digitalisierung zu erschließen, haben auch agile Unternehmen aus der Startup-Szene im Fokus. Die Digitaltechnik öffnet potenziellen Disruptoren auch in den Metallbranchen die Türen. Sprachsteuerung mit Mobiltelefonen, Gesichtserkennung bei Social Media – was Facebook und Amazon, Google und Apple recht ist, hält dank cleverer Firmengründer auch in der Stahlbranche Einzug: Maschinelles Lernen, eines der erfolgreichsten Teilgebiete Künstlicher Intelligenz. Waren selbstlernende Algorithmen noch bis vor wenigen Jahren ein Thema akademischer Forschung, so durchdringen sie heute immer stärker unseren Alltag und die Industrie. 

„Mit Fero Software sind unsere Kunden in der Lage, ihren Produktionsprozess besser zu verstehen und so ihre Profitabilität zu erhöhen“, sagt Tim Eschert. Als Application Engineer von FeroLabs in Düsseldorf ist der Wirtschaftsingenieur mit Master-Abschluss der RWTH Aachen so etwas wie der Stadthalter des New Yorker Startups in Deutschland. FeroLabs setzt auf sogenannte statistische Machine Learning (ML) Methoden. Eschert sieht darin eine Brücke zwischen konventionellen Analysemethoden wie Six Sigma, die bisher in der Produktion genutzt werden und der modernen Technologie des Machine Learnings. „Der Bereich des statistischen ML kombiniert diese zwei Felder miteinander, und wir bei Fero sind stolz darauf, die ersten zu sein, die diese Methoden aus der akademischen Forschung in die industrielle Fertigung getragen haben“, sagt der FeroLabs-Manager. 

Im Stahlbereich hat das Startup den Einsatz seiner Software auf verschiedene Anwendungsfälle angewandt und erforscht, wie Eschert erläutert. Dazu gehören beispielweise Zunderreduktion und Vorhersage der Materialeigenschaften in einer Warmbreitbandstraße; Qualitätsverbesserung in einer Rohrstraße; Erkennung von Einschlussfehlern in einer Drahtstraße und Optimierung des Legierungseinsatzes in einer Stabstraße. „Derzeit ist der Anwendungsfall der Legierungsoptimierung der Bereich, in dem wir, was Implementierung und Skalierung angeht, am weitesten fortgeschritten sind, aber auch die anderen Bereiche sind bereits voll einsatzfähig“, weiß Eschert zu berichten.

Zu den Stahlkunden zählt Gerdau in Brasilien, mit einer Stahlerzeugung in der Größenordnung von ThyssenKrupp und bekannt für seine gute Qualität. Für FeroLabs liege der Fokus dort hauptsächlich auf einer Reduktion der Produktionskosten mittels ML bei gleichbleibender Qualität. Wie Eschert berichtet, kombinierte FeroLabs Daten aus mehreren verschiedenen Datenbanken, um ein vollständiges Bild der gesamten Produktion vom Stahlwerk bis zum Walzwerk zu erhalten. „Der zusammengeführte Datensatz enthielt hunderte von Parametern wie Prozess- und Sensordaten sowie Qualitätsmetriken. Anhand von Daten aus wenigen Monaten schulte Fero automatisch maschinelle Lernmodule, die sich bei der Vorhersage von Zielkennzahlen als sehr genau erwiesen“, wie Eschert ausführt. 

Heute nutzen bei Gerdau Shopfloor-Manager, Qualitätsmanagementteams und Prozessingenieure die Fero Software beispielsweise, um komplexe, nichtlineare Zusammenhänge zwischen Produktion und Zielkennzahlen zu verstehen. „Derzeit nutzen sie diese Erkenntnisse, um Simulationen innerhalb der Fero-Software durchzuführen und die optimalen Produktionsparameter für jede Produktqualität zu ermitteln“, kann Eschert berichten. 

Mecorad: Industrie 4.0 im Walzwerk
Dr. Marc Banaszak ist Geschäftsführer des Kölner Startups Mecorad. Die Ausgründung der TH Köln will Betreiber von Warmwalzwerken mit einem hochpräzisen Messsystem und darauf aufbauenden Applikationen unterstützen. Das Ziel sei neben einer höheren Produktqualität ein möglichst geringer Produktionswertverlust und eine bis zum Endkunden vernetzte Produktion. Das Messsystem von Mecorad vermisst Flachstahl während der Produktion mikrometergenau, eine anspruchsvolle Aufgabe. Wasserdampf, aufgewirbelter Staub und thermische Strahlung verhindern in der warmwalzenden Stahlproduktion bislang, dass die glühenden Stahlbänder während des Produktionsprozesses präzise vermessen werden können. Das Unternehmen will das Problem mittels Radarsensorik gelöst haben. An jeder Stelle des Prozesses findet in Echtzeit eine mikrometergenaue Messung statt. Anders als die bislang verwendeten Verfahren mittels Laser oder Kamera, ist Radar in der Lage, die durch Dampf und dichten Staub verunreinigte Umgebungsluft zu durchdringen. Interferenzen und Störungen etwa durch die starken Vibrationen werden durch die von Mecorad entwickelten Algorithmen beseitigt, versichert Banaszak.

Aufbauend auf diesen Messungen bietet das Unternehmen weitere Dienstleistungen entlang der Wertschöpfungskette an. Dazu gehören Software für spezialisierte Messungen, Prozessanalysen und Regelungsalgorithmen, wie etwa die Steuerung des Walzspalts oder der Walzkaliber. Auch die Abstimmung mit externen Akteuren wie dem Schrottverarbeiter lasse sich über Mecorad-Applikationen managen. „Unser System ist darauf ausgelegt, Services bis hin zum Endkunden zu ermöglichen und diesen in die Produktion einzubinden, etwa durch eine Automatisierung der Auftragsbearbeitung“, verspricht Banaszak.

Ziel von Gründer Banaszek ist es, mit Digitalisierung die gesamte Produktion zu unterstützen. „Mit unserer Technologie gehen wir zwei Grundprobleme der Stahlproduktion an: zu hohe Produktionswertverluste durch ungenaue Messungen und fehlende Regelungsprozesse sowie einen großen Aufholbedarf bei der Digitalisierung“, fasst der Mecorad-Geschäftsführer zusammen. 

SMS Digital: Aufholjagd auf digitalen Feldern
Die Dynamik junger Startups spornt auch die etablierten Player an. Der Anlagenbauer SMS etwa setzt bei der Umsetzung neuer digitaler Dienstleistungen auf den sogenannten Design-Thinking-Ansatz, wie ihn auch typische digitale Startups verfolgen. Das kommt nicht von ungefähr. Mit Unterstützung der auf digitale Transformation spezialisierten Unternehmensberatung Etventure, als Spezialist für digitale Transformation ein Teil der Beratungsgesellschaft EY (Ernst & Young), hat sich der führende Anlagenbauer vor zwei Jahren seine eigene Kreativschmiede, SMS Digital, aufgebaut. Motto der jungen Kreativen mit Sitz Düsseldorf: „Wir nehmen die Herausforderung der digitalen Transformation und Industrie 4.0 in Angriff.“ Ihr Auftrag: Software für Industrie 4.0 und digitale Dienstleistungen für Stahlunternehmen in aller Welt zu entwickeln. 

Die ersten Anwendungen und Softwarelösungen hat SMS Digital bereits zur Marktreife entwickelt. Beispielsweise das intelligente Alarmmanagement „Smart Alarm.“ Um eine maximale Anlagenverfügbarkeit zu erreichen, ist es für Anlagenbetreiber wichtig, den Anlagenzustand zu überwachen. Jedoch werden herkömmliche Visualisierungssysteme mit Mensch-Maschine-Schnittstellen (Human Machine Interfaces, HMIs) diesem Anspruch nicht immer gerecht, wie SMS herausgefunden hat. Mit dem neuen Alarmmanagement lassen sich alle Anlagen eines Stahlunternehmens in ein System integrieren. Das Auswerten des Anlagenzustandes erfolgt durch Trendanalysen, wobei sich dank einer einfachen und intuitiven Bedienung eine zeitaufwändige Einarbeitung erübrige. Im Alarmfall erfolgt ein automatisierter SMS und E-Mail Versand. Aktuell arbeitet die Digitalschmiede an der Vorhersage von Alarmen, sowie an der Identifikation des auslösenden Alarms bei Alarmfluten.

Dass es dem traditionellen Anlagenbauer SMS group ernst mit der Digitalisierung ist, zeigt sich an der oberen Führungsebene. So hat SMS-CEO Burkhard Dahmen zum April 2018 die Bremer Professorin Katja Windt in den Vorstand berufen. Als Geschäftsführerin Digitalisierung verantwortet die promovierte Maschinenbauingenieurin die Bereiche Digital Solutions sowie Elektrik und Automation der SMS group. Als Professorin der Jacobs University Bremen hat die Expertin für Produktionstechnik bereits Digitalisierungs- und Logistikprojekte für Kunden aus der Stahlindustrie realisiert.

Chance Digitalisierung – Gefahr Disruption
Die Digitalisierung der Produktion erzeugt ein dynamisches Ökosystem. Neuen Wettbewerbern aus der Startup-Szene eröffnet das Potenziell die Chance, mit neuen Dienstleistungen etablierte Unternehmen anzugreifen – bis hin zur Disruption bestehender Kunden-Lieferantenbeziehungen. 

„Digitalisierung und Disruption betreffen jedes Unternehmen und jede Branche“, sagt Philipp Depiereux, Gründer und Geschäftsführer von Etventure. Unterschiedlich sei nur die Geschwindigkeit der Veränderung. „Was die Verlags- und Musikbranche bereits schmerzlich erfahren musste, kann zukünftig auch Stahlwerke und Gießereien treffen.“ Das zeigten auch Beispiele aus anderen, eher traditionellen Branchen wie die Heizungsindustrie. Dort habe sich das Startup Thermondo mit einem guten, digitalen Angebot in kürzester Zeit zwischen Endkunde und etablierte Anbieter geschoben und sei heute der größte Heizungsinstallateur Deutschlands. 

Depiereux, der mit Etventure außer dem Anlagenbauer SMS auch den Stahlhändler Klöckner beraten und zu einem digitalen Geschäftsmodell mit einem Startup in Berlin verholfen hat, ist sich sicher: „Auch Stahlwerke und Gießereien müssen sich eines klar machen: Alles was man digitalisieren kann, wird irgendwann digitalisiert werden. Sie müssen sich fragen, ob sie bei diesem Wandel nur zuschauen wollen oder lieber selbst aktiv werden, ehe sie ein digitaler Player in ihrem Kerngeschäft angreift“, mahnt Depiereux. Einen guten Rat hat der Digitalexperte für etablierte Unternehmen auch parat: „Vor allem müssen sie verstehen, was diese großen digitalen Player und Startups anders machen und sich deren Erfolgsfaktoren zu eigen machen.“

Dass Stahlhersteller und Gießereien, Schmieden und Walzwerke mit ihren schweren und sperrigen Produkten als klassische Vertreter der Old Economy für neue Geschäftsmodelle der digitalen Transformation auf den ersten Blick wenig affin erscheinen, überzeugt Depiereux nicht. „Natürlich ist es komplexer, eine Stahlbramme digital zu verkaufen als ein Buch. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht gelingen kann und dass es zwangsläufig irgendwann jemand machen wird.“

Autor: Gerd Krause, Mediakonzept/Düsseldorf

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